In der Indie-Welt ist die Geschichte mittlerweile weit verbreitet: Das 1966 erschiene Debüt von Velvet Unterground (zusammen mit der deutschen Sängerin Nico), unter der Ägide von Andy Warhol veröffentlicht, erzielte kaum nennenswerte Verkäufe. Die Songs von Lou Reed erwiesen sich jedoch im Nachgang als zeitlos und bahnbrechend, mit damals im Mainstream kaum explizit besungenen Themen wie Masochismus („Venus In Furs“), einem Heroin-Trip (ohne diesen gleichsam zu werten, „Heroin“), Drogenkauf („Waiting For The Man“) – oder schlicht das ambivalent-schöne „Sunday Morning“ sowie die Ballade „I’ll Be Your Mirror“. Später avancierte es zum Kult, wurde zum Feuilleton- und Indie-Presse-Liebling. Von Brian Eno wird gerne das Bonmot kolportiert, dass jeder, der ursprünglich die Platte kaufte, eine Band gegründet habe. Tatsächlich nennen namhafte Künstler die Band als Einfluss, darunter David Bowie, R.E.M., U2, Beck oder Sonic Youth. Nun wollen sich Musiker mit einem Tribute-Album vor dem stilprägenden Werk verneigen. Vertreten sind beispielsweise Michael Stipe, Courtney Barnett, St. Vincent, Sharon Van Etten, Matt Berninger, Iggy Pop oder Thurston Moore. Das Album wurde vom ehemaligen Lou-Reed-Produzenten Hal Willner noch als ausführender Produzent betreut, der infolge einer Covid-Erkrankung 2020 verstarb.
Minimal-Elektro-Pop trifft Schrammel-Folk
Entsprechend der Reihenfolge des Originals eröffnet die Produktion mit „Sunday Morning“, gesungen von Michael Stipe. Holzbläser tünchen zunächst sanfte Elegien in die Stille, bevor die Akkorde des Songs durch den Bass aufgegriffen werden – als zweistimmiges Slide-Riff im Stil von „Walk On The Wild Side“. Darüber singt Stipe zunächst etwas ungelenk, als würde er den Text ablesen. Das umarmende, gleichzeitig leicht verstörende Flair des Originals wird durch eine lose Aneinanderreihung verhallter Instrumentalstrukturen ersetzt. Ein pulsierendes Synthesizer-Pattern in der Minimal-Elektro-Ballade wirkt interessant, ebenso wie die fein eingewobenen, Kanon-artigen Background-Gesänge. Das Ein- und Ausblenden unterschiedlicher Elemente erscheint indes willkürlich und abstrakt. Matt Berninger liefert eine verhallte Folk-Rock-Version von „Waiting For The Man“: Die raue Akustikgitarre sowie die metallenen Percussion-Elemente bieten Spannung – lediglich der Gesang will nicht recht zünden, es klingt, als verkörpert Berninger eine theatralisch-aufgesetzte Rolle. Sharon Van Etten interpretiert zusammen mit Angel Olsen eine langsame, fast Äther-getränkte Version von „Femme Fatale“. Statt der tiefen Stimme von Nico schleppen sich die beiden Stimmen wie schläfrige Sirenen durch den Song. Mit komplexem Streicherteppich, Klavier und langsam-dumpfem Schlagzeug bekommt der Song eine neue Perspektive, wenngleich das Vibrato im Gesang vereinzelt fast zu viel des Guten darstellt – trotzdem ist die Version ein Höhepunkt auf dem Tribute-Album. Andrew Bird & Lucius liefern eine mittelalterlich angehauchte Neo-Folk-Variante von „Venus In Furs“: Die Streicherkaskaden und Saiteninstrumente wecken Neugier, ebenso wie die mehrstimmigen weiblichen Gesänge. Einzig der Gesang von Andrew Bird bleibt nichtssagend.
Zwischen Indie-Rock und Kammer-Hörspiel
Kurt Vile & The Violators spielen eine stampfend-raue Indie-Version des grundtönigen „Run Run Run“. Das lädt samt dumpfem Rhythmus und schneidenden Gitarren zum Kopfnicken ein; das Potenzial des Songs wird zeitgemäß wie unprätentiös umgesetzt – ein weiterer Höhepunkt. St. Vincent und Thomas Bartlett arrangieren „All Tomorrow’s Parties“ als Kammer-Hörspiel, mit gesprochenem Text von St. Vincent, teils durch Vocoder und Telefon-Effekt. Darunter liegen Klaviertupfer und Orchester-Einsätze. Die dekonstruierende Herangehensweise klingt zunächst reizvoll, vom ursprünglichen Song bleibt außer dem Text nicht viel übrig. Am Ende bleibt umgekehrt auch nichts hängen. Thurston Moore und Bobbie Gillespie setzen „Heroin“ akustisch und rau um: Das bleibt im Arrangement nah am Original, mit beeindruckend gecoverten Geigen-Sounds – was im Ergebnis nur einen Aufguss des Vorbilds darstellt. Die King-Princess-Version von „There She Goes Again“ kommt gewollt krawallig, mit pseudo-provokativem Gesang. Der Titelsong des Tribute-Albums, „I’ll Be Your Mirror“ ist von Courtney Barnett akustisch umgesetzt, mit schrammelig-verstimmten Gitarren-Sounds und halb-gesprochenem Gesang – das hinterlässt einen seltsam amateurhaften Eindruck. Iggy Pop und Matt Sweeney rabauken sich durch „European Sun“, allerdings verbleiben die Klangkaskaden fast schablonenhaft am Original. Insgesamt bietet die Sammlung einzelne gelungene Experimente, abgelöst von manch unbedingtem Willen, Kunst zu schaffen, sowie nahezu eins-zu-eins nachgespielte Versionen. Eine interessante Tribut-Alternative bot Beck bereits 2009, der das Album mit seinem „Record Club“ mit Gastmusikern aus Spaß auf die Schnelle einspielte – und damit oft einen interessanten Nerv traf. Die Variante war allerdings nur als Stream verfügbar und wurde nie verkauft.
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Teils beeindruckende Tiefenstaffelung – und verwirrendes Panorama
Die Klangqualität variiert – bedingt durch die unterschiedlichen Beiträge – über das Album hinweg, mit leicht anstrengender Tendenz: Bei Michael Stipes „Sunday Morning“ verwischen die Orchesterinstrumente im Panorama, der Gesang sitzt dünn in der Mitte, der Bass bleibt ebenso dürr. Matt Berningers Beitrag klingt noch mittiger, mit unangenehmen Hochmitten. Bei „Femme Fatale“ hingegen entfaltet sich das Klangbild halbwegs harmonisch, voll und im Panorama gut sortiert – ähnlich „Run Run Run“. Das Impulsverhalten bei „Venus In Furs“ klingt flach und hart, der Sound offenbart beklemmende Hochmitten. St. Vincents Beitrag klingt ebenfalls hart und kompakt, der Gesang hört sich an, als sei er in einem kleinen, seltsam bedämpften Raum aufgenommen worden. Die Orchester- und Piano-Elemente erscheinen ebenso im Klang „eingeklemmt“. Bei „I’ll Be Your Mirror“ wirkt der Lo-Fi-Ansatz programmatisch – der zischende Schellenkranz und die harten Impulse der dünnen, verstimmten Gitarre fordern allerdings das Wohlwollen des Hörers. „European Sun“ klingt ebenfalls dünn und kalt. Das unangenehme Klangbild mag theoretisch zur unbequemen Musik passen, wurde aber im Original stimmiger umgesetzt, mit dem Fokus auf „unangenehme“ Performance statt beschnittener Klänge. Dadurch kommt der inhaltliche Krawall durch, statt den Hörer weghören zu lassen.
VARIOUS ARTISTS – I’LL BE YOUR MIRROR – A TRIBUTE TO THE VELVET UNDERGROUND & NICO
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 6 |
Klang | 7 |