Der ehemalige Porcupine-Tree-Frontmann Steven Wilson hat mit „THE FUTURE BITES“ sein sechstes Soloalbum veröffentlicht. Auf dem Konzeptalbum widmet sich der 53-jährige Brite der Erzählung und Kritik am menschlichen Zeitgeist und deren künftiger Perspektive, samt überbordendem Individualismus, Social-Media-Selbstdarstellung, dem Streben nach Konsum und selbstbezogenem Handeln.
Konzeptalbum mit Indie-Elektropop
Das einminütige Intro „UNSELF“ dient dabei als Vorbote: Verhallte Akustikgitarrenklänge, Piano-Akkorde sowie vereinzelte Elektro-Effekte untermalen Wilsons Gesang, der darüber klagt, dass „das Selbst nur sich selbst lieben“ könne. Die Stimme entschwindet am Ende aus dem Hall, anschließend beginnt „SELF“; das klingt nach Indie-Elektropop, irgendwo zwischen Herbie Hancocks „Rockit“ und atmosphärischen Disco-Elementen. Mit angezerrter Stimme skandiert Wilson Phrasen rund um das Wort „Self“, Proklamationen um Ego, Selbstinszenierung und Wahrnehmung, die vereinzelt wie Wortspiele anmuten, die – ebenso wie die bissig gesungene Kritik („entertain like a fucking clown“) – einen gewollten Eindruck hinterlassen. Drumherum fauchen verhallte Gitarrenfetzen und ein cleaner Stakkato-Rhythmus, der eingängige Refrain wird von Frauenstimmen gesungen; ein Anspieltipp. „King Ghost“ ist elektronischer und atmosphärischer, mit fast ätherischem Kopfstimmen-Refrain, einzelne gesampelte Elemente hinterlassen dabei einen abstrakten Eindruck. „12 THINGS I FORGOT“ klingt nach klassischerem Folk-Indie-Pop mit Akustikgitarre und sphärischem 1980er-Jahre-Synthie-Einschlag, orchestralen Elementen und glatten Klavier-Sounds. Das Stück überrascht mit spannenden Melodieeinwürfen – ein Höhepunkt.
Progressive-Rock-Strukturen mit Disco-Funk- und EDM-Elementen
„EMINENT SLEAZE“ kombiniert Claps, ein knurrend-angezerrtes Bassriff mit Percussion, orientalischen Streicher-Einwürfen und verzerrtem Gesang. Schließlich setzen ein Funk-E-Piano und ein Disco-Schlagzeug ein. Während der Gesang an Muse erinnert, ruft die Ästhetik der Musik eher Assoziationen in Richtung Shaft oder „Papa was a Rolling Stone“ hervor. „MAN OF THE PEOPLE“ klingt zunächst minimalistisch und verträumt, mit leiser, gleichzeitig aggressiver Computer-Snare. Zum Ende des offenen Refrains wird das Ergebnis konterkariert mit verzerrten, düsteren Gitarreneinwürfen. Das konsumkritische „PERSONAL SHOPPER“ beginnt als dunkler EDM-Stomper, bevor akustische Drums zu den pulsierenden Elektro-Synths und hohen, verhallten Melodien à la Ultravox hinzukommen; schließlich folgen kurze Schranz-Einlagen, als Gast rezitiert Elton John in der Mitte der zehnminütigen Nummer vor einem Ambient-Hintergrund mögliche Shopping-Fantasien. „FOLLOWER“, das die Sucht nach Followern kommentiert, klingt nach vergleichsweise krawalligem Punkrock, wechselt nach scheinbarer Monotonie schließlich in einen Progressive-Elektropop-Teil samt kaskadierten Melodiestrukturen; das Ergebnis geht bei Wilson auf und ins Ohr – ein weiterer Höhepunkt. „COUNT OF UNEASE“ schließt die neuen Stücke mit einem Ambient-Track, der in neue Harmonien fließt und damit in seinen Bann zieht. Im Vergleich zu den früheren, Progressive-Rock-lastigeren Alben setzt Wilson hier noch deutlich mehr auf elektronische Experimente, weniger auf Gitarren-getriebene Sounds. Von den Progressive-Elementen bleibt vor allem die Herangehensweise, auf Veränderungen innerhalb der Stücke zu setzen. Das geht größtenteils auf. Lediglich vereinzelt erscheint das Konzept des Wandels deutlicher herauszuhören, als dass das musikalische Ergebnis für sich stehen kann – etwa das geschäftige, stellenweise überfrachtete Arrangement von „EMINENT SLEAZE“. Im Rahmen mancher Anklagen bleibt kein Raum für Zwischentöne, stattdessen schwingt Wilsons Pendel von einem Extrem ins andere. Beim „PERSONAL SHOPPER“ unterstreicht die permanente Veränderung hingegen die inhaltliche Suche nach neuen Reizen.
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Bewusst nicht immer Schönklang
Dass ein Album, das sich zumindest vereinzelt mit Kritik am Zeitgeist auseinandersetzt, nicht auf reinen Schönklang setzt, stellt vermutlich eine logische Konsequenz dar. In den „lauten“ Stücken ist „THE FUTURE BITES“ dicht produziert, mit recht fülligen Synth-Sounds, dazu breit gefächertem Panorama. Die elektrischen Drums bleiben dünn, das akustische Schlagzeug klingt belegt und leblos – im Gegensatz zum knurrig verzerrten E-Bass. Der teils angezerrte Gesang kratzt in den Höhen etwas unangenehm. Insgesamt unterscheidet sich das Klangbild über die Stücke hinweg deutlich: „PERSONAL SHOPPER“ ist etwa seltsam mittig-dumpf, mit gleichzeitig zischender Hi-Hat und nahezu „klirrenden“ Akustikgitarren-Einwürfen. Das Kriterium von Durchhörbarkeit lässt sich nur bedingt anlegen – am Ende bewegt sich das Album gefühlt zwischen einem Kunstprojekt und progressivem, komplexem Elektro-Pop. Das soll vermutlich den Hörer aufrütteln, umgekehrt wirken Ambient-Strecken recht angenehm produziert. Dabei setzt Wilson weitgehend auf ausgedünnte Klänge statt auf volle, greifbare Sounds. Das Album ist in vielen limitierten Sondereditionen erhältlich, darunter ein inzwischen verkauftes „Ultra Deluxe“-Boxset, unter anderem mit einer Testpressung, einer Vinyl-Single eines unveröffentlichten Songs und handgeschriebenen Texten. Auch farbige Vinyl-Auflagen oder gar eine Kassetten-Auflage befinden sich im Portfolio. Passend zum Konzeptalbum hat Steven Wilson auch absurde Scheinartikel als Merchandising im eigenen Shop aufgeführt, etwa in Dosen abgefüllte arktische Frischluft, für nur 500 Pfund pro Stück. Die strikt limitierten 100 Stück sind – so will es der Shopping-Zeitgeist – natürlich längst vergriffen.
STEVEN WILSON – THE FUTURE BITES
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 7 |
Klang | 6 |