Die Hamburger Band Selig feierte mit ihrer Mischung aus rauem Indie-Bluesrock und Psychedelic-Folk-Pop in den 1990er Jahren große Erfolge. Durch Songs wie „Ohne Dich“, „Ist es wichtig“ und „Wenn ich wollte“ stieg das Quintett zum großen Namen der deutschsprachigen Szene auf, nicht zuletzt dank der rebellisch-intellektuellen bis teils frech-spätpubertären Texte von Sänger Jan Plewka. 1999 folgte die Trennung, 2008 die Neugründung. Mittlerweile ist die Band zu viert – ohne Keyboarder – unterwegs. Nun erschien das achte Studioalbum, „Myriaden“.
Zwischen Retro-Pop-Flair, Bluesrock und Elektro-Anklänge
Mit „Süßer Vogel“ beginnt die Veröffentlichung denkbar ungewohnt: Eine Midtempo-Folkpop-Ballade mit bedämpftem Sixties-Schlagzeug, Streicher-Vorhang, abgestoppten Gitarrenakkorden, Glocken, Schellenkranz und Hallfahnen. Die dunkle und weite Klanglandschaft greift Motown- und Phil-Spector-Anleihen auf. Darüber singt Plewka meist verhalten, der poetische Text richtet den Blick auf frühere Jugendzeiten und beleuchtet Vergänglichkeit. Die Titelzeile „Süßer Vogel Jugend“ verweist auf das gleichnamige Schauspieldrama von Tennessee Williams aus dem Jahr 1959. Trotz der offenkundigen Retro-Anklänge der Produktion wird das Stück angenehm zeitlos, eines der am stimmigsten arrangierten Selig-Stücke bislang – ein Höhepunkt. Danach folgt „Alles ist so“: Der modern produzierte Gegenentwurf mischt Folk mit R&B und Funk, das Schlagzeug vermittelt elektronisch angehauchte Beats, dazu weite Klavierakkorde. Der Text beschreibt chaotische Zustände der Welt. Der Gesang Jan Plewkas schlängelt sich durch eine Chorus-Bitcrusher-Effektkette, einzelne Textzeilen sind gerappt. Das Ergebnis ist denkbar untypisch, funktioniert dennoch erstaunlich gut.
Disco-Funk und Entschleunigung
Im Titelsong klagt Plewka über eine Dystopie der Moderne, in der sich die Menschen auf Bildschirmen verlieren – und daher nicht mehr zu fassen sind. Die Harmonien der Strophe erinnern an das Beatles-Stück „Don’t Let Me Down“, die Indie-Folk-Nummer fließt angenehm. „Spacetaxi“, betont tanzbar gehalten, verweist im Elektro-Funk-Stil etwa auf Jamiroquai. Ästhetisch setzen Selig den Song etwa mit E-Drums, Slap Bass, Synthesizer und 1980er-Jahre-Synth-Effekte in Richtung sich überschlagender Flipper-Automaten um, dazu dezente Gitarren-Einwürfe. Die Ballade „SMS K.O.“ klingt stilistisch nach frühen Selig-Alben, mit dumpfen Indie-Blues-Sounds und minimalistischem Arrangement. Der Song thematisiert das unwürdige Schlussmachen per SMS. Im ersten Moment etwas betont schwermütig, letztlich überzeugt das Ergebnis textlich mit gelungenen Bildern („Sie warf mich heute Morgen wie einen Kadaver übers Meer“ / „Ihr Profilbild ist verschwunden, ich geblockt, wie man sieht / Und so stürzt sie mein Leben in ein Krisengebiet“) – ein weiterer Höhepunkt. „Angesicht zu Angesicht“ verbindet World-Music-Flair mit dumpfen Elektro-Drums, Chor und R&B-Klavier, dazu weit verhallte Gitarrenakkorde – das klingt atmosphärisch, vor allem dank punktgenau eingeworfenen, abgedämpften Bassmelodien. „Selig“, praktisch als Hymne des Eigennamens, ist ein Rocker mit flott-holprigem Tom-Beat, im Refrain geht’s gradlinig vorwärts – hier mischt die Band Bo-Diddley-Einflüsse mit rauem Indie-Rock – vielleicht eine Nummer, die sich Westernhagen gewünscht hätte zu schreiben, in jedem Fall ein weiterer Anspieltipp. „Paradies im Traumrausch“ liefert eine sphärische Indie-Ballade mit langsamen Drums und verhallten Gitarreneinwürfen, samt gelungenen Effekten. Am Ende fließt das Bild eines Drogenrauschs vorbei, ein wattierter Traum und gleichzeitig ein Treibenlassen am Strand. „Postkarte“ – eine Ballade aus Konzertgitarre und Cello, dazu Streichermelodien – wirkt hingegen etwas steif und gleichförmig. „Zeitlupenzeit“ plädiert für Entschleunigung, in der Strophe mit Synth Bass, Elektro-Beat-Einwürfen und einem angenehm synkopierten Rhythmus umgesetzt,– die Kombination lädt zum Mitwippen ein. „Du“ rundet die elf Stücke mit einer langsamen Ballade aus Klavier, Drums und Soundeffekten ab. Das wirkt zusammen mit dem Kopfstimmenrefrain seltsam dekonstruiert, hüllt in Kombination mit den ungewöhnlichen, sprunghaften Akkordwechseln (in der Art, wie sie etwa David Bowie gut hinbekam) dennoch ein.
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Insgesamt setzt die Band ihre Entwicklung weiter fort, weg von der breitbeinigen Intellektuellen-Macho-Pose der Anfangstage, hin zu ruhigeren und differenzierteren Blickwinkeln, samt Experimenten. Trotz verletzlicher Offenheit schlängeln sich die Texte gekonnt an der reinen Befindlichkeitslyrik mancher Charts-orientierter Deutschpop-Produktionen vorbei.
Stimmiger „Klangteppich“ mit Raum für Zwischentöne
„Myriaden“ überzeugt durch eine größtenteils aufgeräumte Produktion – besonders die erwähnte stimmige Produktion von „Süßer Vogel“ begeistert mit fülligem Klang und klar zu lokalisierenden Elementen im Panorama. Lediglich die leichte Verzerrung auf der Stimme von Plewka, die das Album weitgehend durchweg begleitet, bedarf ob der kratzigen, dünnen Rauheit kurzer Gewöhnung – hier hätte weniger vielleicht mehr bewirkt. Das Schlagzeug hingegen erscheint auch bei dumpfer Retro-Ästhetik dicht und gleichzeitig nicht „vermatscht“. „Spacetaxi“ sticht klanglich aus dem Album heraus, statt des fülligen Klangs bleiben dürre, entfernte Einzelklänge, insgesamt fehlt ein Bassfundament – zumindest die 1980er-Jahre-Ästhetik wird dadurch verdeutlicht. Von einzelnen „Ausreißern“ abgesehen bleibt im Gesamtbild eine für den deutschen Pop- und Rock-Bereich beachtlich ausgewogene Produktion.
SELIG – MYRIADEN
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 8 |
Klang | 8 |