Mit seinerzeit 46 Jahren veröffentlichte Lou Reed 1989 sein „New York“-Album: Knapp eine Stunde lang entfaltet sich darin eine Momentaufnahme aus Kurzgeschichten und Charakteren rund um die Stadt und deren Probleme, die vom damaligen Bürgermeister Rudy Giuliani zwar gesäubert und der Einfluss der Mafia zurückgedrängt wurde (eine Leistung, die er durch sein Engagement als Anwalt für US-Präsident Donald Trumps schmutzige Aktionen längst konterkariert), aber in der Reagan-Ära viele soziale Probleme aufwirft.
„New York“ wurde von der Kritik gelobt und zählt mit einer goldenen Schallplatte zu den erfolgreichsten Alben des 2013 verstorbenen Songwriters Lou Reed. Dessen Nachlassverwalter haben indes eine remasterte Deluxe Edition des Albums veröffentlicht, bestehend aus drei CDs (das Album plus Bonusmaterial aus Konzerten sowie ein unveröffentlichter Song), zwei LPs (nur das Album) und einer DVD (das Konzertvideo „The New York Album“ von 1990, erstmals auf DVD erschienen, mit einem zusätzlichen Audio-Interview von Lou Reed). Ein Buch mit Kommentaren von Rolling-Stone-Musikjournalist David Fricke und Archivverwalter Don Fleming liegt ebenfalls bei. Das Set wurde von Reeds Witwe Laurie Anderson, Fleming, Bill Ingot, Jason Stern und dem ehemaligen und kürzlich an Covid-19 verstorbenen Produzenten von Lou Reed-, Hal Willner, produziert. Alternativ ist das reine CD-Audiomaterial als Download erhältlich.
Lou Reed liefert ‚sauberen‘ Garagen-Rock
Das Album selbst beinhaltet mittlerweile Klassiker aus dem Portfolio von Lou Reed: In „Romeo had Juliette“ nimmt der Künstler die Ausgangslage des Shakespeare-Dramas als Starpunkt für New Yorker Straßengang-Szenarien, untermalt von rauen, wilden Gitarren bei gleichzeitig fast ‚klinisch‘ aufgeräumt-minimalistischem Arrangement. „Halloween Parade“ benennt das damals dramatisch um sich greifende Sterben von Homosexuellen an Aids. „Dirty Blvd.“, eine der Singles und der Höhepunkt des Albums, mit einem prägnant-minimalistischen Drei-Akkord-Riff, liefert eine Kurzgeschichte aus der Sicht eines Kindes über Armut und den gewalttätigen Zwang zum Betteln durch den Vater, verbunden mit dem Wunsch, den Verhältnissen durch einen Zaubertrick zu entfliehen. „There is no Time“ formuliert mit kräftig verzerrten Gitarren und polternden Drums die Aufforderung zum Handeln gegenüber den Missständen.
Im fast jazzigen „Beginning of a Great Adventure“ erzählt Lou Reed indes von der Herausforderung eines Kinderwunsches in der Ehe (bei dem er schließlich sich selbst in der dritten Person anspricht). „Busload of Faith“ erweist sich als solide Rock-Nummer. Das besengetragene, flotte „Sick of You“ kombiniert eine fiktive Nachrichtensendung aus Schreckensmeldungen, verglichen mit dem profanen Scheitern einer Beziehung – hier scheint der Text recht gewollt konstruiert. „Good Evening Mr Waldheim“ – als Anklage gegen Politiker und deren scheinbare Doppelmoral gerichtet – stellt mit eingängigen Melodien einen weiteren Höhepunkt des Albums dar. Auch die Folk-Ballade „Xmas in February“ – nur aus E-Gitarren und elektrischem Kontrabass bestehend – über einen bettelnden Vietnam-Veteran, der von der Politik und Gesellschaft im Stich gelassen wurde, liefert eine gelungene Erzählung. Das rockige „Strawman“ wirkt allzu gradlinig ohne harmonische Reibung. Und im abschließenden „Dime Store Mystery“ kombiniert Lou Reed die Erzählung aus Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“ mit dem Tod Andy Warhols 1987 und dessen Beerdigung.
Reeds Band auf dem vorliegenden Album, bestehend aus Produzent und Drummer Fred Maher, E-Kontrabassist Rob Wasserman und Gitarrist Mike Rathke (neben Lou Reed als Gitarrist und Sänger), spielt direkt und unmittelbar. Harmonisch bleiben die Arrangements eher eindimensional, etwa im Vergleich zu den Lou Reed Alben „The Blue Mask“ und „Legendary Hearts“ mit Gitarrist Robert Quine. Bei „Last Great American Whale“ und „Dime Store Mystery“ übernimmt Velvet-Underground-Schlagzeugerin Moe Tucker als Gast Percussion. Ein Gastauftritt von Velvet-Underground-Geiger und -Bassist John Cale war laut Produzent Maher ebenfalls geplant, fand aber am Ende nicht statt.
Überschaubare ‚Dreingaben‘ als Bonus-Material
Das Bonus-Material aus Konzerten der folgenden Tour von Lou Reed dürfte vor allem beinharten Fans gefallen: Die Live-Umsetzung ohne Drummer Maher erscheint weniger kraftvoll, klanglich rangieren die Mitschnitte bei der Qualität recht gut brauchbarer Bootlegs, die am Mischpult mitgeschnitten wurden. Musikalisch bilden sie selten einen Mehrwert gegenüber den Studioproduktionen. Eine Ausnahme: „Busload of Faith“ vermittelt live interessante Energie.
Die weiteren Dreingaben aus der Studioproduktion erscheinen auch weitgehend als Kuriositäten, darunter raue Demo-Skizzen zu den Songs, die den Arbeitsprozess etwas aufzeigen: Produzent Maher hat seiner Aussage nach im „Gearslutz“-Tontechniker-Forum größtenteils nachträglich über zuerst aufgenommene Gitarren-Tracks getrommelt – was die Aufgabe für den damals 23-Jährigen Produzenten ungleich schwieriger gemacht haben dürfte; aus dieser Arbeitsweise entstand vermutlich der rhythmisch interessante Versatz am Ende der Refrains von „Dirty Blvd.“ Der „Rough Mix“ von „Sick of You“ zeigt beispielsweise lediglich Gitarren und Gesang, bei „Hold On“ fehlt der Bass von Rob Wasserman, was seltsam leer klingt. Reizvoll: Die Single-Version von „Romeo had Juliette“ mit einem alternativen, klareren Mix und zusätzlichen Percussion-Elementen.
Umgekehrt wird deutlich, wie sehr auf den Punkt die Gesamtproduktion des normalen Albums am Ende kommt. Der einzig unveröffentlichte Track, „The Room“, stellt sich als eher belanglose Instrumental-Improvisation heraus, mit verzerrter Melodiegitarre ohne wirklich roten Faden, dazu mit demohaft rauem Klang. Für Hardcore-Fans von Lou Reed wiederum dürfte die Live-DVD interessant sein, die musikalisch eine solide, unaufgeregte Performance bietet und bislang nur auf VHS und Laserdisc erhältlich gewesen ist. Zusätzlich ist eine 96 kHz/24 Bit-Audio-Version des remasterten Albums auf der DVD erhalten.
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Klangbild mit leichten Spitzen
Im Pressetext wird das Album zwar als „erstmalig remastered“ beworben, allerdings wurde bereits 2015 von Warner eine remasterte High-Resolution-Download-Fassung veröffentlicht. Die ursprüngliche 1989er-Veröffentlichung klingt im besten Sinne solide, allerdings auch dünn, ohne kraftvolle Bässe oder wirklich dreidimensionale Instrumente. Die Drums markieren mit leicht sterilen Klängen die Übergangsphase ‚glatter‘ 1980er-Jahre-Produktionen hin zu raueren Indie-Sounds. Die Gitarren sind zwar an sich rau gehalten, wirken aber gleichzeitig sehr isoliert.
Bei der Warner-Fassung von 2015 sind Bassvolumen und Höhen deutlich angehoben, worunter allerdings die Impulstreue leidet. Das Ergebnis wirkt seltsam träge und undefiniert in Bass und Mitten und gleichzeitig grell in den Höhen. Das aktuelle Remastering fällt behutsamer aus: Keine massive Kompression, das Bassfundament erscheint fast zurückhaltend, das Höhenspektrum öffnet den ‚belegten‘ Klang der originalen Veröffentlichung. Letzteres erscheint einerseits hilfreich, schießt jedoch knapp übers Ziel hinaus: Die Höhen wirken leicht anstrengend, und auch HiHat- und Snare-Elemente sowie die oberen Frequenzen der Gitarren kommen damit überproportional heraus – gut hörbar bei „Halloween Parade“ oder „Dirty Blvd.“. Bei „Endless Cycle“ klingt das für den Rhythmus gesampelte Metronom unangenehm spitz. Im Vergleich lässt sich die ‚dünnere‘ Originalveröffentlichung leichter durchhören. Ein verwunderliches Detail: Bei „Romeo had Juliette“ wurden die Links- und Rechts-Kanäle gegenüber dem Original vertauscht.
Die klangliche Bewertung bezieht sich rein auf das Album, nicht auf die Bonus-Dreingaben, deren dokumentarischer Charakter im Vordergrund stehen dürfte. Eine 96 kHz/24 Bit-Variante des Audio-Materials ist bei Hi-Res-Audio erhältlich.
LOU REED – NEW YORK (DELUXE EDITION)
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 9 |
Klang | 7 |