Ein Album zwischen Satire und Teilhabe: Mit „The Future Bites“ veröffentlicht der
53-jährige Brite ein Konzeptalbum über Konsum, Selbstdarstellung und die
Seltsamkeiten mancher Social-Media-Süchte. Dabei beobachtet und kritisiert Wilson
– bedient aber gleichzeitig bewusst jene Mechanismen. Im zweiten Teil des Interviews spricht Nicolay Ketterer mit Steven Wilson über Deluxe-Box-Sets, Surround-Mischungen und (Re-)Mastering.
? – Was das ursprüngliche Album angeht: Üblicherweise hatten Künstler und Produzent eine Absicht hinter der getroffenen Auswahl der Songs. Abgesehen von Remastering des Ausgangsmaterials, wo es eventuell um technologische Fortschritte geht: Bei neuen Zusammenstellungen eines Klassikers mit zusätzlichem Material, das angeblich herausragend sei, unterstellt man dem Künstler theoretisch, er habe die Qualität des unveröffentlichten Materials nicht erkannt. Zudem wird die Einheit des Albums aufgebrochen, indem weiteres Material hinzugefügt wird …
Das erscheint mir immer mehr der Fall. Ich werde für viele Projekte dieser Art gebucht, um sie neu abzumischen – allerdings mehr 5.1-Surround-Projekte, bei denen es um eine neue Hörerfahrung des ursprünglichen Albums geht, was ich gerne mache. Aber oft werden Demos und Outtakes ausgegraben, die – wie du sagst – in den Augen des Künstlers und des Produzenten damals nicht gut genug waren. Weshalb sind sie also jetzt gut genug? Es gibt Ausnahmen: Die 2020er Prince „Sign O’ The Times“-Box ist hervorragend! Das ist einer der Typen, bei denen man sich fragt: Wie konnte er das Material nicht veröffentlichen?
? – Ansonsten bringt die Veröffentlichung von ursprünglich abgelehntem Material eigentlich keinen Mehrwert als musikalische Erfahrung …
Es wird lediglich Archäologie betrieben und dient zum Abhaken. Viele Major-Plattenfirmen realisieren, dass es einen Markt für diese Box-Sets gibt, indem sie sie an Leute verkaufen, die dasselbe Album bereits drei, vier Mal gekauft haben: Die ursprüngliche Vinylausgabe, als die Platte herauskam, die erste CD-Auflage und die remasterte CD-Auflage. Das gleiche Publikum wird nun die ultimative Auflage, das Deluxe-Edition-Box-Set kaufen. Sie können viel Geld verlangen, und die Sammler kaufen es. Es ist ein wenig zynisch, aber das ist aktuell der Markt. Um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Das ist praktisch das gesamte Konzept, worum es mir bei der Aufmachung zu „The Future Bites“ geht – der Markt der Limitierung, das elitenhafte, das manchmal mit dem physischen Produkt einhergeht.
? – Du hast auch eine „Super Ultra Deluxe Edition“ angeboten – ein einmaliges Exemplar mit Testpressungen und Awards, sowie einem exklusiv verfügbaren Song, für 10.000 Pfund. Wie schnell war das verkauft?
In einer Minute! (lacht) Wir haben das rund vier Tage vorher angekündigt. Bis zum Verkauf hatten 20, 25 Leute angefragt, um es zu reservieren, was unglaublich ist! Das Geld ging an einen guten Zweck, daher war ich sehr glücklich darüber [die Einnahmen gingen laut Wilsons Webseite an den „Music Venue Trust“, um kleine Live-Venues in Großbritannien zu unter- stützen, d. Autor]. Der Verkauf war allerdings nicht meine Hauptmotivation, das Angebot zu kreieren: Es war praktisch konzeptionelle Satire – ein musikalisches Produkt, das fast analog zur Kunstwelt funktioniert, wie ein Gemälde oder eine Skulptur: Es wird immer nur ein Exemplar existieren, und das wird für einen entsprechend hohen Preis an einen Sammler verkauft. Derjenige kann entscheiden, ob er es in einer Galerie ausstellt oder über dem Kaminfeuer in seinem Wohnzimmer nur für sich selbst aufhängt. Ich mochte die leicht satirische Idee, ein Äquivalent im Musikbereich zu machen – ein Kommentar zur Kunstszene, zur ultimativen elitären Limited Edition.
? – Im Blu-Ray-Format bietest du hochauflösendes Material sowie Surround-Mischungen an. Hat sich Blu-Ray in der Breite wirklich etabliert?
Tatsächlich wurden von meinem letzten Album 12.000 Exemplare auf Blu-Ray verkauft, das hat selbst mich überrascht! Ich vermute, die Leute, die High-Resolution-Audio mögen – 96 kHz/24 Bit, 5.1-Surround-Mischungen und Dolby Atmos – möchten noch gerne eine physische Version der Musik besitzen. Das scheint mir ein recht großer Teil meines Publikums. Viele audiophile Hörer mögen meine Platten, weil ihnen der Klang gefällt, was sehr schmeichelhaft ist. Ich arbeite immer in 96 kHz/24 Bit, mache viel im Bereich Surround und Immersive Audio. Das ist mein erstes Album, das ich in Dolby Atmos gemischt habe – für andere habe ich bereits ein paar Alben in dem Format gemischt. Das ist ein wachsender Markt – eine Nische, aber eine substanzielle Nische!
? – Wie unterscheidet sich dein Mix-Ansatz für Dolby Atmos, verglichen mit Stereo oder „herkömmlichen“ 5.1-Surround-Ansätzen?
Das war definitiv eine Lernkurve, und ich lerne immer noch dazu. Mit 5.1 bin ich mittlerweile sehr vertraut, das mache ich seit über zehn Jahren. Dolby Atmos ist nochmal komplett anders: Allein die Idee, dass sich Lautsprecher in der Ebene über dir befinden, lässt dich anders über das Gesamterlebnis nachdenken: Es geht nicht mehr länger nur darum, dem Hörer Musik in der horizontalen Ebene näherzubringen, sondern auch in der vertikalen Ebene. Auch hier gilt Versuch und Irrtum – manche Ideen, die für das Konzept perfekt erscheinen, klingen am Ende nicht stimmig. Aber wenn es aufgeht, finde ich das Erlebnis, sich inmitten der Musik zu befinden, schlicht erstaunlich.
? – Du wurdest mittlerweile für Remix-Album-Projekte etwa von Jethro Tull, King Crimson, XTC, den Simple Minds oder Tears For Fears engagiert. Vor einigen Jahren hattest du dich in dem Zusammenhang über das Thema Mastering „beschwert“ – grob vereinfach ausgedrückt, weil dir der Mehrwert nicht einleuchtete. Wie siehst du das inzwischen?
Ein paar Mastering Engineers hatten damals die Musik „zerstört“, das ist meistens allerdings nicht der Fall. Die meisten Mastering Engineers sind fantastisch, hören gut und machen das Richtige für die Musik. Damals, als ich die Remixe machte, kam eine Diskussion mit Plattenfirmen und Managern auf, grob in die Richtung: „Ich bin glücklich mit dem Klang, ihr sagt ebenfalls, dass es hervorragend klingt – warum wollt ihr euch die Mühe machen, die Mischungen nochmal mastern zu lassen? Das ist keine Musik, die im Radio oder Fernsehen gespielt wird. Das kaufen Fans, die die Musik kennen und vorwiegend auf guten Anlagen hören werden. Sie wollen das gesamte Dynamikspektrum hören – ohne zusätzliche Kompression oder überdimensionierte Höhen und Bässe. Warum bezahlt ihr dann jemandem 10.000 Dollar, um es zu verschlimmbessern? (lacht) Spart euch das Geld!“ Wir haben mit den ersten Jethro-Tull-Platten, die ich neu gemischt habe, in die Richtung expe-rimentiert: Die Mischungen wurden ohne weitere Bearbeitung veröffentlicht. Die Fans haben das Ergebnis geliebt! Sie meinten, es klingt organisch und dynamisch! Jedes Mal, wenn ich inzwischen ein Remix-Projekt für einen Album-Klassiker mache, schlage ich vor, das Ergebnis nicht separat zu mastern: „Ich habe bereits selbst ein bisschen Mastering vorgenommen, im Rahmen meiner Mischung. Für mich klingt das Ergebnis organisch, originalgetreu, dynamisch und nicht unnötig komprimiert – die Fans werden es so lieben.“ Und bislang hat noch keiner das Gegenteil behauptet! (lacht)
? – Das Problem ist vielleicht, dass ein Mastering-Ingenieur seinem Auftraggeber – der Plattenfirma – Rechenschaft schuldig ist, und die wiederum schlicht marktbezogene Klangmerkmale einfordert?
Richtig. Ich verstehe auch, dass Plattenfirmen bei Reissues ähnlich denken wie bei aktuellen Platten – „wie wird das im Radio klingen? Wird es wirklich einschlagen?“ – auch wenn das in dem Fall nicht wirklich relevant ist. Der andere Punkt: Mir fällt auf, dass viele Plattenfirmen nicht verstehen, was Mastering eigentlich ist. Die denken einfach: „Oh, von uns wird erwartet, das machen zu lassen.“ Für die ist es wie ein schwarzes Loch. Oftmals können sie später keinen Unterschied im Vergleich erkennen, es klingt vielleicht ein bisschen lauter – aber in jedem Fall wissen sie: „Ich habe es mastern lassen!“
? – Eine Aufgabe eines gewissenhaften Masterings besteht auch in schlichter „Qualitätskontrolle“ – sind keine oder nur geringe ästhetische Eingriffe nötig, spricht das doch auch für die Qualität? In dem Fall hat eine „Außeninstanz“ auf weiteren Lautsprechern das Ergebnis für gut und vor allem als gut auf andere Systeme „übertragbar“ befunden …
Ja, aber du hast in dem Fall 10.000 US- Dollar für das Privileg bezahlt! Das war das, was mich nervte. Manche Mastering-Engineers bekommen mehr Geld für das Mastering des Albums als ich für die Mischungen bekam! Alles, was sie – in meinen Ohren – machten, resultierte in einem insgesamt schlechteren Ergebnis, mit reduzierter Dynamik. Oder ich konnte schlicht keinen Unterschied wahrnehmen – und trotzdem bekamen sie dafür 5.000, 6.000 Pfund. Das hat mich schlicht verrückt gemacht.
? – Es hängt natürlich davon ab, wer mischt – eine unerfahrene Band, die sich vielleicht selbst mischt, oder ein Mixing Engineer, der weniger Erfahrung hat, braucht vielleicht eher jemanden von außen, der die Mischungen „abnimmt“?
Richtig. Und nochmal – ich will eigentlich nichts Schlechtes über Mastering sagen. „The Future Bites“ wurde übrigens von Bob Ludwig in den USA gemastert, eine Legende! [siehe Interview Professional Audio Ausgabe 8/2014] Er hat eine tolle Arbeit abgeliefert. Der Grund: Mein Album sollte für alle Anwendungen gut klingen – beim Streaming, im Radio, dazu sollte die Platte auf „sympathische“ Art etwas mehr komprimiert werden, weil es eine brandneue Veröffentlichung ist. Ich nutze also immer noch Mastering Engineers, wenn es in meinen Augen sinnvoll erscheint.