Interview Steven Wilson: Gefangen im ambivalenten Zeitgeist (Teil 1)

Steven Wilson_Gefangen im ambivalenten Zeitgeist
Foto: Lasse Hoile

Ein Album zwischen Satire und Teilhabe: Mit „The Future Bites“ veröffentlicht der
53-jährige Brite ein Konzeptalbum über Konsum, Selbstdarstellung und die
Seltsamkeiten mancher Social-Media-Süchte. Dabei beobachtet und kritisiert Wilson – bedient aber gleichzeitig bewusst jene Mechanismen. Im ersten Teil des Interviews spricht Nicolay Ketterer mit Steven Wilson über das neue Album, narzisstisch anmutende Konsumenten und Musik als einmaliges Kunstwerk.

? – Wie entstand die ursprüngliche Idee, über individualisierten „Konsumwahn“ und Social-Media- Selbstdarstellungs-Narzissmus als Konzept zu schreiben?

Die Songs habe ich um 2018 geschrieben – in Großbritannien befanden wir uns mitten im Brexit, in den USA war die Trump-Administration in der Hälfte der Amtszeit angelangt. Ich war nicht sonderlich optimistisch, angesichts dessen, was in der Welt passiert, sondern eher etwas enttäuscht vom Rest meiner Spezies! (lacht) Speziell, wenn du in Social Media die Politik des Hasses verfolgt hast, wie Leute Gegebenheiten nur in schwarz und weiß betrachteten – und wie die Menschen sich selbst erlaubten, Schwachsinn zu glauben, der offensichtlich unwahr war. Selbst im Angesicht der Fakten – wenn demonstrativ bewiesen wurde, dass es nicht stimmte! Social Media muss sich meines Erachtens nach in vielen Punkten rechtfertigen, was das angeht. Dadurch entstand eine ganze Generation von selbstbesessenen, narzisstischen Menschen, die es lieben, ihre eigenen Überzeugungen gespiegelt zu bekommen. Wie ich das sehe: Die Menschheit war immer neugierig und hat in Richtung des Universums geblickt. Heute verbringen wir die meiste Zeit damit, auf einen kleinen Bild- schirm zu starren, um zu sehen, wie viele Likes wir auf Instagram, wie viele Kommentare wir auf Facebook und wie viele Views wir auf YouTube bekommen haben. Das ist eine Schande, das ist deprimierend! Und das alles passte zu einer Mentalität wie der von Donald Trump, der mit Lügen um sich warf und dem es möglich war, sie die Leute glauben zu lassen. Mittlerweile sehe ich die Dinge wieder etwas positiver. Das Pendel scheint ein wenig in die andere Richtung auszuschwenken – davon abgesehen hatte die Welt durch Corona ein sehr schwieriges Jahr. In manchen Dingen erscheint die Platte noch relevanter als ich es hätte erwarten können.

? – Und nur, weil das Pendel nun zurückschwingt, bleibt ja immer noch die Hälfte der US-Bürger zu- rück, die die Richtung bislang nicht überzeugt …

Absolut! Und: Das Pendel wird irgendwann wieder in deren Richtung ausschwenken. Vielleicht sind wir in vier Jahren zurück bei der Politik des Hasses, der Dummheit, Ignoranz und von allem anderen wie unter Trump. Es scheint keinen Unterschied zu machen, wie offensichtlich unwahr oder dämlich etwas ist – die halbe Weltbevölkerung wird es glauben.

? – Lass uns auf positive Effekte der Social-Media-Kultur blicken …

Offensichtlich sind das Internet und soziale Medien unglaubliche Erfindungen! Das Problem besteht nicht in der Technologie, sondern die Art, wie die Menschheit bisher damit umgeht. Rein von meinem persönlichen, etwas egoistischen Standpunkt: Vor 25 Jahren, als ich in der Musikindustrie anfing, galt: Wenn ich Informationen über ein neues Album vermitteln wollte, musste ich buchstäblich Newsletter drucken, falten, eintüten, und in den Briefkasten einwerfen. Das war teuer und aufwendig! Wenn ich jetzt einen neuen Song oder eine neue Platte habe, wissen innerhalb einer Sekunde eine Million Leute Bescheid! Dazu gibt’s viele Informationen und intelligente Diskussionen im Netz. Der leichte Zugang zu Musik, Film, Literatur und Informationen hat andere Nachteile – das hat Leute selbstgefälliger und blasierter gemacht, was diese magischen Dinge angeht! Musik bedeutete für mich als Kind, mein Taschengeld zu sparen und es in eine Platte zu investieren!

? – … praktisch eine pro Monat?

Richtig. Und die Platte war wie Zauberei für mich!

? – Du würdest sie praktisch von vorne bis hinten durchhören?

Immer und immer wieder – sogar, wenn ich sie hasste! (schmunzelt) Ich würde sie anhören, bis ich sie mochte. Das Problem mit der Generation, die unmittelbaren Zugang hat, besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit Musik weniger auf einer tieferen Ebene stattfindet. Nun, es gibt immer positive und negative Aspekte! Ich denke, am Ende geht es darum, welchen Weg wir wählen, um die Technologie zu nutzen. Ein Teil von mir denkt: All die Science-Fiction-Dystopien aus dem 20. Jahrhundert, die voraussagten, dass wir eines Tages durch künstliche Intelligenz versklavt würden, haben sich ziemlich bewahrheitet. Der einzi-ge Unterschied: Die Autoren haben sich vorgestellt, dass Roboter wie der Terminator durch die Gegend laufen. Es ist das Internet samt den sozialen Medien. Wir sind traurigerweise zu Sklaven der Technologie geworden, die wir kreiert haben.

? – Stichwort „Sklaverei“: Vor 25 Jahren warst du als Musiker noch eher „Sklave“ der Gatekeeping-Kultur großer Plattenfirmen; du warst darauf angewiesen, dort unterzukommen und promotet zu werden. Umgekehrt unterliegt die Gesellschaft heute auch der Illusion, dass – am Beispiel von Musikern – derjenige, der erfolgreich ist, automatisch damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann …

Das ist sehr schwierig. Jeden Tag werden zehntausende Songs veröffentlicht auf Spotify, AppleMusic, You-Tube, Soundcloud – wo auch immer! Es befindet sich mehr Musik in der Welt als jemals zuvor. Ich denke, viele Musikliebhaber ertrinken darin! Wie setzt du dich als Newcomer gegen das „Grundrauschen“ durch? Ich würde heute nicht anfangen wollen; als ich vor 30 Jahren anfing, war es bereits hart – aber wenigstens war es möglich, deine Musik hörbar zu machen, einen Plattenvertrag zu bekommen, auf Tour zu gehen und eine Gefolg- schaft auf „traditionelle“ Art aufzu-bauen. Aber: Jemand wie ich hätte heute keine Chance, eine Fanbase aufzubauen.

? – Stichwort Fanbase: Passend zum Album hast du eine entsprechende Marketing-Kampagne inszeniert. Auf der zugehörigen Webseite bietest du teilweise absurde Scheinangebote an, wie Frischluft in Dosen als limitierte Auflage, inspiriert von „Vitaly Air“, ein Produkt, das tatsächlich frische Luft aus Kanada abgefüllt feilbietet …

Das hat teilweise mit dem zu tun, worüber wir gerade geredet haben – dass so viel Musik in der Welt aktuell verfügbar ist. Musik ist auf gewisse Art lediglich ein Inhalt geworden für die großen Anbieter; sie benötigen Musik, um ihre Netzwerke zu füttern. Ich mag die Idee, das Album als Produkt zu präsentieren – ähnlich wie Apple eines ihrer Produkte präsentieren würde. Es geht darum, den Hörer praktisch daran zu erinnern, dass er an einer finanziellen Transaktion teilnimmt, wenn er Musik kauft, um die Idee von Musik als Produkt. Davon ausgehend entstand der Ansatz, ein paar der High-Concept-Design-Firmen wie Supreme zu parodieren, die ein 50-Cent-T-Shirt nehmen, ihr Logo darauf drucken und 500 US-Dollar verlangen. Und die Leute kaufen es, sie lieben es, dafür Geld auszugeben! Das macht auf gewisse Art Spaß, das kann ich verstehen. Dahinter steht fast der Gedanke, dass sich Konsum dieser Tage nicht um Nutzen dreht, sondern um Besitz und Status. Das fasziniert mich.

? – Im Pressetext zum Album hattest du auch die Konzeptkunst des amerikanischen Designers Virgil Abloh erwähnt, der 2019 orangefarbene nummerierte Keramikblöcke und glänzend lackierte Ziegelsteine anbot, als limitierte Serie von 999 Exemplaren, für jeweils 140 Pfund …

Er hat das clever vermarktet, die verkauften sich schnell und werden mittlerweile auf Ebay für mehrere tausend Pfund gehandelt. Es ist die Idee, die dahintersteht: Dieses Objekt hat keinen klassischen Nutzen. Du wirst es nicht verwenden, um dein Haus zu bauen – dafür ist es schlicht zu wertvoll. Es ist ein Ziegelstein! Der einzige Grund für seine Existenz liegt im Besitz – der Status, einen Virgil-Abloh-Ziegelstein zu besitzen. Ein großer Teil der Musikwelt bewegt sich in die gleiche Richtung, was Deluxe-Edition-Box-Sets angeht. Sie sind praktisch vorherrschend in der Industrie: Jedes Album wird entsprechend veröffentlicht, ob alt oder neu – meine Musik übrigens ebenfalls, ich habe viel mit derlei Projekten zu tun! Aber: Der zusätzliche Inhalt ist oft Material, den die Hörer vermutlich nicht mehr als einmal anhören: Demos, alternative Takes, ein schlecht aufgenommenes Bootleg, ein 7“-Vinyl-Edit, der nur für eine Woche in Portugal erhältlich war … Es scheint, als diene das nur für Sammler, um Häkchen zu setzen: „Hab ich!“ Wenn’s ums Hören geht, bleibt es beim ursprünglichen Album. Bei den 100-Euro-und-mehr-Boxsets dreht es sich nur um den Besitz: „Ich liebe diese Platte – so sehr, dass ich das Deluxe-Edition-Boxset besitze“, fast als Statussymbol, um der Welt zu sagen: „Das ist etwas, das mich definiert.“ Das passiert also in jedem Bereich.

Homepage Steven Wilson

The Future Bites

Teil 2 des Interviews erscheint am 29.03. und behandelt die Themem Deluxe-Box-Sets, Surround-Mischungen und (Re-)Mastering.

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