Bruce Springsteens Album „Letter to You“ markiert das 20. seiner Karriere. Der 71-Jährige hat es – im Gegensatz zu Vorgänger-Alben – wieder gemeinsam mit der E-Street-Band aufgenommen, die zuletzt bei der 2014er Veröffentlichung „High Hopes“ zum Einsatz gekommen war. Das brandneue Studioalbum enthält größtenteils neu geschriebenes Material. Drei Songs – „If I Was the Priest“, „Janey Needs a Shooter“ und „Song for Orphans“ – hatte Bruce Springsteen allerdings für sein 1973er Debütalbum „Greetings from Asbury Park, N.J.“ geschrieben, sie jedoch letztlich nicht darauf veröffentlicht.
Typisch Springsteen: Songwriter-Folk und Rock
„One Minute You’re Here“ beginnt als dunkler Singer/Songwriter-Folksong, mit reduziertem Gitarren-Picking und groß darüber thronender Stimme von Bruce Springsteen. Anschließend flechten sich behutsam Klaviertöne ein, bevor Streicher und dumpfe, paukenartige Trommelrhythmik einsetzen. Das bemerkenswerte Stück entwickelt sich als scheinbar versöhnliche Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit. Die Titelnummer, ein melodischer Rocksong, verneigt sich mit melodischen Gitarren-Single-Notes stilistisch in Richtung „Born to Run“, nur etwas gesetzter und grundtöniger – ein Anspieltipp.
„Burnin‘ Train“, ein Uptempo-Stück setzt auf Glocken-Sounds, geshuffelte Akustikgitarren-Rhythmik und treibendes Schlagzeug, bleibt dabei vergleichsweise monoton. „Janey Needs a Shooter“, das erste ‚Überbleibsel‘ aus dem besagten Debüt-Fundus von Bruce Springsteen, erscheint als schleppende Rocknummer, welche die Schwere ihrer Protagonistin und des Erzählers über scheinbare Bedürfnisse trägt. Die Stilistik samt Hammond-Orgel erinnert entfernt an „Like a Rolling Stone“; Bruce Springsteen singt die Geschichte mit Verve und Leidenschaft – ein eingängiger Höhepunkt.

„Last Man Standing“ beginnt mit flinkem Akustikgitarren-Rhythmus und entwickelt sich zur Mditempo-Rocknummer – Bruce Springsteen thematisiert hier die eigene Zunft als alternder Rocker; der letzte verbliebene einer Generation, der das Publikum immer noch mitnimmt, mit gelungenen Bildern („Snakeskin vest and a sharkskin suit / Cuban heels on your boots / Kickin‘ the band in side by side / You take the crowd on their mystery ride“). Lediglich melodisch und harmonisch wirkt das Stück etwas zusammengewürfelt, die einzelnen Teile aufwendig und doch fast beliebig aneinandergereiht, wodurch nichts wirklich hängenbleibt. Saxophonist Jake Clemons – Neffe des verstorbenen E-Street-Band-Mitglieds Clarence Clemons – kommt bei den in Chorus getauchten Melodien kaum über den Eindruck einer grundtönigen Nachahmung der Stilistik seines Vaters hinweg – ein Eindruck, der auch im folgenden „The Power of Prayer“ bleibt. Der melodische Midtempo-Song klingt zwar gefällig, gleichzeitig grundtönig und vorhersehbar. Im Vergleich dazu ist „Ghost“, dessen Energie an Springsteens „Radio Nowhere“ erinnert, trotz aller Gradlinigkeit erfrischend.
Bruce Springsteen mit Dylan-Melancholie
Beim alten „Song for Orphans“ klingt mit Mundharmonika, dem langsam-schleppenden Rhythmus und dem beschwingt-wuchtigen Duktus von Bruce Springsteen mehr denn je die schwere Melancholie von Bob Dylan an, atmosphärisch knüpft der ‚Boss‘ hier an Dylans „My Back Pages“ und The Bands „The Weight“ an; die E-Street-Band vermittelt passend beschwingte, fast schunkelnde Energie. Der Song markiert melodisch den wahren Höhepunkt des Stücks. „I’ll See You in My Dreams“, ein hymnischer Rock-Song mit leichtem Hang zum Pathos, beschließt die zwölf Stücke passend.
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Der Boss & Co. liefern ein volles, offenes Klangbild
Klanglich waren die Veröffentlichungen von Bruce Springsteen mitunter durchwachsen: „The Rising“ von 2002 kombiniert am ehesten erfolgreich die Idee eines modernen, kraftvoll komprimierten Rock-Albums, „Magic“ von 2007 stellte dagegen einen unangenehmen Höhepunkt in Sachen Kompression dar; in den Stücken war kaum Dynamik übrig, weshalb das Durchhören des eigentlich guten Materials zur Geduldsprobe wurde. „High Hopes“ von 2014 war zwar nicht übermäßig laut, aber seltsam unausgewogen gemischt.
Springsteens 2019er Album „Western Stars“ war indes solider produziert, und „Letter to You“ wirkt klanglich noch stimmiger: Die Drums erscheinen kraftvoll und dreidimensional, ohne die Dynamik gänzlich einzudampfen, die Signale – endlich auch Springsteens Gesang – sind plastisch greifbar. Lediglich einzelne Klavier-Sounds wirken verloren breit im Panorama aufgezogen, und die Ästhetik des in Chorus getauchten Saxophons unterstützt eher Klischees statt Arrangements gezielt zu untermalen. Am Ende bleibt ein Bruce Springsteen-Album mit teils durchschnittlichen, bereits besser gehörten Stücken, umgekehrt aber auch mit besonders gelungenen Songs („Song for Orphans“, „One Minute You’re Here“, „Janey Needs a Shooter“).
BRUCE SPRINGSTEEN – LETTER TO YOU
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 8 |
Klang | 8 |
Kleine Korrektur: Jake ist nicht der Sohn, sondern der Neffe von Clarence.
Hallo Jörg,
vielen Dank für Dein Interesse an der Plattenkritik sowie für den hilfreichen Hinweis – ist bereits abgeändert.
Viele Grüße,
Dein mobilefidelity-Team