Nach legendären Songs, unzähligen Hits und hunderten Millionen Plattenverkäufen erschien Anfang der 1980er Jahre das bisher letzte ABBA-Album. Nun das: Eine neue Platte, passend dazu eine Hologramm-Konzert-Produktion in England. Was die neue Musik angeht, stellt sich die Frage, was nach so langer Zeit noch übrig ist von ABBAs Magie: Wie klingt die Band 40 Jahre nach der letzten Studioveröffentlichung?
Teils gute Songideen im Bombast-Kitschgewand
Der Opener „I Still Have Faith In You” beginnt mit epischem Anspruch: Die Strophe führt auf einem sanften, hellen Synthesizer-Bett zum Refrain, die Stimmen von Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad klingen bemerkenswert zeitlos – im Direktvergleich mit alten Hits wirkt das Timbre jedoch etwas gesetzter. Vor allem die kraftvolle Performance der 71- bzw. 76-jährigen nötigt Respekt ab. Der weit aufgehende Refrain lässt typische ABBA-Harmonien anklingen – die funktionieren immer noch. Als Hörer hat man allerdings Mühe, die Qualität des Songs „auszugraben“, der von kitschig-schwammigen Sounds dominiert wird, die mehr nach Alleinunterhalter-Retorte als nach den tatsächlich eingesetzten Musikern klingen. Das Arrangement wirkt überfrachtet, als ob es zu viel will: Das Schlagzeug zerteilt den Refrain in aufgezwungen-vertrackte Rhythmik, flache Bläser doppeln den Gesang, ein starrer Schellenkranz fegt durch das Stück, im Hintergrund wabern dürre Paukenschläge. Darüber weben sich Zuckerguss-Synthesizer und gefällig- singende E-Gitarrentöne. Die Mitsing-Schunkelnummer „When You Danced With Me“ erinnert an schottische Traditionals, was laut Pressetext auch die Inspiration darstellte. Der eindimensionale Dudelsack-Sound klingt allerdings nach einer Schlagerfassung. Die Klavierballade „Little Things“ stellt eine erfrischend minimalistische Ausnahme dar – lediglich der allzu süßliche Hall, glatte Synthesizer, Chorus-geladener Fretless Bass, weichgespülte Orchester-Klänge sowie dünnes Glockenspiel erinnern an André-Rieu-Produktionen. Mit entschlosseneren Klängen umgesetzt, wäre die Nummer ein interessantes, vielschichtiges Stück zur Weihnachtszeit.
Zwischen Boogie Woogie, Disco und Orchester-Ballade
„Don’t Shut Me Down“ schunkelt sich wiederum in Synth-Pop-Schlagergefilde. Mit teils überraschenden Harmonien entfaltet das Lied am ehesten den Mitsing-Charakter alter ABBA-Hits. Der geshuffelte Boogie-Woogie „Just A Notion“ klingt wie eine ABBA-Variante von Status Quo oder Suzie Quattro. „Keep An Eye On Dan“ wirkt moderner, mit einem spannend rhythmisierten Synth-Pattern, Disco-Rhythmus und eingängigem Refrain – die dünnen, glatten, stark verhallten Sounds mindern jedoch die Wirkung des Stücks. „Bumblebee“ wiegt sich mit zarten Marschrhythmen und langweiligen Synthesizern durch allzu vorhersehbare Harmonien. „No Doubt About It“ rockt flotter, bleibt aber nicht hängen. Das zehnte der neuen Stücke, „Ode To Freedom“, schließt die titelgebende „Reise“ des Albums mit einer orchestralen Ballade. Die zeichnet sich durch interessante Rhythmik sowie gelungene Harmoniewechsel aus.
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Dünner, entfernter Klang wie aus einer 1990er-Jahre-Schlager-Schneekugel
Bei den früheren ABBA-Produktionen – eine Mischung aus Phil-Spector-artigen Klangwänden und 1970er-Jahre-Schlager – war das Ergebnis zwar äußert gefällig, aber noch nicht über die Schmerzgrenze hinweg weichgespült. Das neue Album klingt hingegen, als wäre es von EDM oder Emo-Schlager-Pop inspiriert worden – um seinerseits eine noch weichere Fassung abzuliefern, deren Klang an ein frühes Alleinunterhalter-Setup der 1990er Jahre erinnert. Das verwundert, da schließlich unzählige Musiker und ein Orchester beteiligt waren. Die Klänge sind undifferenziert, ohne klares Impulsverhalten (Drums, Synthesizer) und gut hörbares Fundament (Gesangsaufnahmen). Andere Elemente wie Akustikgitarren wirken lieblos hart. Wie es elektronisch wirkmächtiger geht, haben Erasure bereits in den 1990er Jahren angedeutet, bei deren Elektro-Pop-Variante von ABBA-Covers auf ihrer EP „ABBA-Esque“. Das ist bei ABBA selbst umso bedauerlicher, da die Grundideen des Songmaterials – abgesehen von den überbordenden Arrangements und seltsam überladenen Wechseln – und die Qualität der Songwriter immer spürbar bleiben. Die Hörer*innen müssen allerdings den Willen aufbringen, über den Zuckerguss aus unnötigen Zusatz- und Konservierungsstoffen hinwegzuhören.
ABBA – VOYAGE
TESTERGEBNIS | Punkte |
Musik | 8 |
Klang | 5 |